Giacinto Scelsi - complete works for flute & clarinet

Erläuterungen zu den Stücken
 
 

Piccola Suite (1953). Es geht hier nicht um die Verschmelzung der beiden Klänge wie z.B. bei Ko-Lho, sondern um ein hoch virtuoses (1. und 3. Satz) Zusammenwirken zweier an sich unabhängiger, aus Scelsis Prinzip der Variation (siehe auch PwyIl) entstandener Solostimmen. In faszinierender Weise entsteht trotz dieser Unabhängigkeit für den Zuhörer eine echter Dialog. Der pastorale Schlußsatz erinnert wohl noch am ehesten an die Form der Suite: Traditionell als Melodie mit Begleitung aufgebaut, wirkt er, nach den aufwühlenden Sätzen zuvor, äußerst entspannend.

Quays (1953). Die Idee einer Interpretation nicht nur mit der Flöte, sondern auch mit der Altflöte, resultierte aus der Zusammenarbeit mit Giacinto Scelsi und ist von ihm autorisiert worden. Ich spiele in dieser Aufnahme das Stück mit der normalen Flöte in C, um die Brillanz in den virtuosen Passagen zu erhalten.

Die kompositorische Struktur bezieht sich auf das Prinzip der Zentraltöne: Hier bilden die Töne H, C, D auch in ihren Oktavversetzungen ein Art Hauptraster. Formal läßt sich das Stück in mehrere Abschnitte gliedern: Melodische Bewegungen von geradezu verträumtem Charakter umklammern einen dramatischen Mittelteil.2
 
 

Preghiera per un‘ombra (1954) („Gebet um einen Schatten"). Der ungewöhnlich konkrete Titel beschreibt direkt die Situation des Interpreten: Ein von der Hitze Getriebener, an der Grenze des technisch Möglichen. Das Werk lebt von raschen Lagen~chseln, wodurch z.T. auch eine mehrstimmige Wirkung erzielt wird.

Im 1954 komponierten Stück Pwyll  für Flöte solo knüpft Scelsi unmittelbar an die in seinen Klavierkompositionen, im speziellen an die in der Suite Nr. 1O,,Ka"gewonnenen Erfahrungen an. Es lebt von Scelsis Technik der Variation: Das Beharren auf einer einzigen Tonfiguration ist dabei nie mit stereotyper Wiederholung zu verwechseln, meint stets zuallererst Neuformung, Übersetzung, Enthüllung eines bislang verborgenen Aspekts.3

Tre studi (1954). Ein in sich geschlossener Zyklus von drei, der Es-Klarinette zugeschriebenen Stücken. Scelsi verzichtet hier bewußt auf die extremen Lagen der Es-Klarinette, um mehr klangliche Flexibilität zu erreichen. Der bewegte 1. Satz ist durch große, nach oben gerichtete lntervallsprünge gekennzeichnet. Satz Nr.2 zeigt deutliche Bezüge zum 1. Satz, jedoch wird hier der enge Tonraum durch Vierteltöne bzw. Glissandi noch weiter aufgegliedert. Eine weitere Steigerung erfährt der Satz durch einen äußerst virtuosen Mittelteil. Der sehr lebhafte 3. Satz stellt eine Synthese der beiden anderen Sätze dar: Er pendelt zwischen ruhiger und — gegenüber dem 1. Satz gesteigerter —Bewegung, integriert darüber hinaus die Vierteltöne und Glissandi des 2. Satzes.

Rucke di guck (1 957). Von der Anlage her ähnlich aufgebaut wie die Piccola Suite (bis auf den Schlußsatz), steigert Scelsi hier die Virtuosität und Schärfe durch die Verwendung der Instrumente Piccolo-Flöte und Oboe (hier in einer Aufnahme mit Piccolo-Flöte und Es-Klarinette), bis an die Grenze des technisch Möglichen.

Unbestritten markiert Ko-Lho (1966), neben dem Orchesterstück Quattro pezzi, einen Höhepunkt in Scelsis Karriere: Das Werk stellt eine Synthese aus seiner früheren Arbeitsweise und seiner Neuorientierung in Richtung Mikrotonalität dar: Es weist trotz seines ruhig fließenden Charakters eine äußerst differenzierte Rhythmik auf, welche Scelsi nach und nach zugunsten der Tiefe des Klangs d.h. der Mikrotonalität, der Gestaltung des Tons an sich (Crescendi, Vibrati, Glissandi, Schwebungen), aufgibt.

In Xnoybis (1964) wird diese Entwicklung sehr deutlich: Der 1. Satz weist noch rhythmische Feinheiten ähnlich dem Werk Ko-Lho auf. Der 2. Satz ist fließender gehalten — an Stelle von Sekund-Trillern treten rhythmisierte Viertelton-Tremoli auf. Der 3. Satz weist schließlich nur noch einen Tonraum von c‘-f" auf. Die Viertelton-Tremoli werden durch Klangfarben-Tremoli z.T. mit Vibrato ersetzt.

Ein weiterer Schritt in diese Richtung wird in dem Stück L‘âme ailée (1974) deutlich:

Der Verzicht auf Lagenwechsel, keinerlei rhythmische Details (nur noch Viertel-Puls), und eine weitere Beschränkung des Tonraumes auf nur noch eine Sekunde!

Der kleine relative Abstand und die Dehnung der Zeit sowie die Variabilität der Dynamik suggerieren den Eindruck von Kraft und Gegenkraft. Diese Entfaltung des Raumes innerhalb des Verstreichens der Zeit ist der Alap, der langsamen Einleitung indischer Ragas verwandt.4

Eine darüber hinausgehende Steigerung bietet L'âme ouverte (1974): Der Spieler wird angehalten, die Schwebungen zwischen zwei benachbarten Tönen zu zählen! Das widerspricht allerdings, rein physikalisch, der bestehenden Notation in Viertel- und Achteltönen; wir haben uns in unserer Aufnahme für die Version mit Schwebungen entschieden.

Zu den Bearbeitungen der Werke Xnoybis, L‘âme ailée und L‘âme ouverte für die Besetzung Flöte & Klarinette: Die technisch extremen Anforderungen an den Solo-Violinisten, auf jeweils zwei Saiten z.T. gegenläufige Dynamik, Glissandi, Vibrati, Viertel- und Achteltöne spielen zu müssen, rechtfertigen sicherlich eine Bearbeitung für zwei Instrumentalisten — in unserem Fall für Flöte & Klarinette in B —zumal sich Scelsi bereits zuvor mit der „dritten Dimension", der Tiefe des Klanges, anhand von Blasinstrumenten, speziell auch in dem Stück Ko-Lho für Flöte & Klarinette, beschäftigt hatte.

Maknongan (1976) pour un instrument grave ou voix de basse. Eines der asketischsten Stücke Scelsis: Es fordert die totale Versenkung in den Ton Gis, die Umsetzung feinster klanglicher Nuancen, und zeigt deutlich das Interesse Scelsis am Obertonreichtum tiefer Instrumente oder auch Stimmen (auch an den Sprüngen in die nächst höhere Oktave zu erkennen). Glissandi und Vierteltöne führen das Stück bis hin zum Schlußton G.

Krishna e Radha (1986) ist eine aus aufgezeichneten improvisationen von Giacinto Scelsi und Carin Levine entstandene Gemeinschaftskomposition. Scelsi gab dem Stück den Namen Krishna e Radha. Krishna und Radha sind zwei Gestalten, in Anlehnung an die alten hinduistischen Gita-Govinda-Gedichte von 1100v. Chr. Das Werk sollte mit leichtem, verspieltem Gestus aufgeführt werden. Es drückt die Stimmung zweier Musiker aus, die einen gemeinsamen Abend genießen und ihre Instrumente sprechen lassen.5
 
 

Übersetzung, Änderungen und Textkürzungen: Stefan Fischer
 
 

2 Giacinto Scelsi Quays for flute (alto flute) solo, Bärenreiter BA 7443

3 MUSIK-KONZEPTE Nr. 31, edition text+kritik GmbH, ISBN 3-88377-132-5

4 MUSIK-KONZEPTE Nr. 31, edition text+kritik GmbH, ISBN 3-88377-1 32-5

5 Giacinto Scelsi Krishna e Radha for flute and piano, Bärenreiter BA7444
 
 
 

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